Es gibt Dinge im Leben, die vergisst man nie. Das erste Mal gehört hier unweigerlich dazu. Die Gründe hierfür fallen aber sehr unterschiedlich aus. Die einen fiebern lange, manchmal Jahre darauf hin und sind dann extrem enttäuscht. Für andere kommt es absolut überraschend und sie behalten den Moment ewig in guter Erinnerung. Beiden ist in der Regel aber gemein, dass es vor allem die Anspannung und Aufregung sind, die dafür sorgen, dass sich das Ereignis für immer ins Gedächtnis einbrennt.
Während für den Otto-Normalbürger das „Erste Mal“ in der Regel mit einer sexuellen Handlung gleichzusetzen ist, kann sich dieser Zustand Im Leben eines Motorradfahrers gleich mehrfach wiederholen. Da ist die erste Fahrt, die meist auf einem fremden Motorrad und damit unbekannten Arbeitsgerät und bei absoluter Ahnungslosigkeit vollzogen wird. Gut, man hat mit Freunden meist viel darüber geredet und in der Regel schon große Mengen theoretischen Lehrstoffs in Form von Bild- und Videomaterial konsumiert. Wie man Hebel und Knöpfe aber tatsächlich drücken muss, davon hat man keinen blassen Schimmer. Ist es dann endlich soweit, ist Nervosität vorprogrammiert und zumindest emotional zeigen sich hier doch überraschende Parallelen zum ersten Beischlaf. Man fingert mit den Händen zittrig am Gerät herum, und versucht, die Chose irgendwie in Gang zu bringen. Meist scheitern die ersten Versuche kläglich. Kommt man dann aber in Fahrt, fühlt man sich wie der König.
Entwickelt man sich nach dem Führerschein in die sportliche Richtung, kann man dieses intensive „Das-erste-Mal“-Gefühl auf einem Motorrad aber immer wieder erfahren. Denn Erlebnisse wie das erste Mal Rennstrecke oder die Entjungferung des Knieschleifers lösen ein ebenso intensives Bad der Gefühle aus.
Nun ist es mir nach über 20 Jahren auf zwei Rädern tatsächlich wieder passiert und auch diesmal kam alles ziemlich überraschend. Die Aufregung war entsprechend. Feuchte Hände, trockener Mund, rasender Puls – alles inklusive. Schuld daran war das Bolliger Langstrecken-WM-Team um Teamchef Hanspeter Bolliger, die ich mehr oder weniger zufällig in Almeria traf und die sich bei einem netten Plausch beim Abendessen tatsächlich dazu überreden ließen, dass ich Ihr edles und von fachkundiger Hand aufgebautes WM-Motorrad für einen Turn zur Verfügung gestellt bekomme.
Objekt der Begierde
Warum dieses Motorrad so viele Emotionen auslöst? Nun, zum einen ist die Bolliger Mannschaft nicht irgendein Team. In der Langstrecken-WM gibt es keinen Team-Chef, der mehr Erfahrung vorweisen kann als Hanspeter Bolliger. Hampu – wie er von fast allen gerufen wird – ist seit 43 Jahren im Rennsport aktiv – drei Rennen auf der Isle of Man inklusive – und seit 1982 in der Langstrecken WM unterwegs. Immer auf Kawasaki, immer mit der Startnummer „8“. Als wäre das nicht außergewöhnlich genug, handelt es sich beim Team Bolliger nicht um eine Werksmannschaft, sondern um ein reines Privat-Team. Alle gehen einer regulären Arbeit nach und betreiben den Rennsport nur nebenbei. Dass das kein Nachteil ist, zeigen die Ergebnisse.
In den letzten zehn Jahren gehörte das Team am Ende der Saison dreimal zu den besten Drei, 2010 verpassten die Schweizer den Titel nur um Haares Breite und wurden Vize-Weltmeister. Und auch die Saison 2018/19 begann beim Bol d´Or auf dem Circuit Paul Ricard mit einem vierten Platz vielversprechend.
Bevor es für das 25-köpfige Bolliger Team bei den 24 Stunden von LeMans weitergeht, bin ich aber dran. Doch bevor es zum eigentlichen Akt kommt, rückt erstmal kein geringerer als Ex-IDM-Champion und Servus-TV Moderator Stefan Nebel auf der Langstrecken-Zehner aus, um für die Bolliger Mannschaft Fahreindrücke zu sammeln. In der Zwischenzeit bittet mich Team-Chef Hampu höchstpersönlich zur Einweisung. Mein Abenteuer „Langstrecken-Motorrad“ fällt mit 20 Minuten statt 24 Stunden zwar eher in die Kategorie „Quickie“, das Motorrad wurde aber natürlich für den Dauerbetrieb und blitzschnelle Boxenstopps aufgebaut und glänzt mit einer Vielzahl raffinierter Detaillösungen.
Augenscheinlichster Unterschied zum Serienmotorrad – der riesige Tank. Während das Spritreservoir des Serienmotorrades mit einem Volumen von lediglich 17 Liter daherkommt, reizt das Endurance-Pendant die im Reglement maximal zulässigen 24 Liter voll aus. Der Tankvorgang ist aber dank Schnelltankanlage innerhalb weniger Sekunden abgeschlossen. Geschwindigkeit – vor allem die beim Boxenstopp – ist generell maßgebend für die Änderungen am Motorrad. In Gänze summieren sich die Umbauten und Tuningmaßnahmen auf einen Wert von gut 60.000 €. Die wirklich raffinierten Details offenbaren sich hier aber erst auf den zweiten oder sogar dritten Blick. Für den muss ich mir aber nach dem Ausritt zeitnehmen, ganz überraschend kommt Stefan Nebel von seinem Turn zurück und ich bin an der Reihe. Ein kurzer Check durch den Mechaniker und ich kann die Kawa übernehmen. Hampu erklärt mir noch kurz durchs offene Visier, wie man ein Langstrecken-Motorrad richtig startet (erst den Gang rein, dann den Anlasser drücken) und dass an der Zehner das Schaltschema umgekehrt ist und dank Blipper ohne Kupplung geschaltet werden kann, dann geht es auch schon los.
Heißes Eisen mit guten Manieren
Ein kurzer Druck auf den Anlasser erweckt das Aggregat zum Leben, die Kupplung rückt sanft ein und ich beschleunige aus der Boxengasse hinaus auf den Circuito Almeria. Direkt auf den ersten Metern fällt auf, wie kommod die ZX-10R ihren Fahrer platziert. Das Sitzpolster ist zwar erwartungsgemäß straff und der Tank spreizt die Beine mehr als gewohnt, die Ergonomie fällt für ein Rennmotorrad aber fast bequem aus. Der Lenker ist breit, aber nicht zu ausladend und auch die Stummel sind nicht zu tief angeschlagen. Auch der Kniewinkel fällt nicht zu extrem aus. Diese Auslegung macht natürlich Sinn. Zum einen muss man sich beim Langstreckenrennen auch nach mehreren Stints noch einigermaßen wohlfühlen, zum anderen müssen gleich drei Fahrer mit der Ergonomie des Motorrades klarkommen. Im Fall des Bolliger Teams trennen den erfahrensten Fahrer Roman Stamm (SUI / 1,74 m / Bj. 1976) und den jüngsten Piloten Nigel Walraven (NL / 1,86 m / 1988) nicht nur zwölf Jahre, sondern auch ganze zwölf Zentimeter Körpergröße. Kein Wunder also, dass ich mit meinen einseinundachtzig entspannt auf der Zehner Platz finde.
Überraschend ist auch, wie leichtfüßig sich die Kawasaki fahren lässt. Aufgrund des 24 Liter-Tanks und diverser Umbauten wie der verbreiterten Schwinge, den Schnellwechselsystemen für die Räder sowie der Beleuchtungsanlage bringt es die ZX-10R mit ihren 195 Kilogramm zwar fast auf Serienniveau (206 kg), beim Fahrverhalten hat sie aber nichts mit der Straßenversion gemein. Absolut beeindruckend, wie direkt und neutral die ZX-10R fährt und wie leichtfüßig sich dieses „schwere“ Motorrad abwinkeln lässt. Dabei zeigt sich das Motorrad zu jederzeit transparent wie Quellwasser. Kurskorrekturen in großen Schräglagen? Kein Problem! Eigenschaften, die für den Fahrer vor allem auf der neuen Strecke von Almeria ein Segen sind. Während der Testsession wurde nämlich nicht nur auf dem altbekannten Circuito Almeria gefahren. Dieser kann seit 2018 mit dem benachbarten Circuito Andalucia zum insgesamt über 9 Kilometer langen Circuito Espana kombiniert werden. Und die neue Strecke hat es in sich. Die Berg-und-Tal-Bahn ist mit ihren blinden Ecken und zahlreichen Streckenvarianten und Verbindungsstücken schwer zu lernen. Für Neulinge eine Herausforderung, dank des Handling der extrem zugänglichen Langstrecken-Zehner aber nur halb so schlimm.
Und auch sonst zeigt sich die Zehner äußerst transparent und mit sehr guten Manieren. Auch diese machen sich auf dem Streckenteil Circuito Andalucia besonders bemerkbar. Während der alte Kurs nur langgezogen Bergauf-und-Bergab-Passagen kennt, weist der neue Streckenabschnitt kleinere Kuppen auf, die die Zehner auch bei leicht geöffnetem Gas nur zu gern dazu nutzt, das Vorderrad zu lupfen. Bei knapp 210 PS am Rad kein Wunder, dank des fein ansprechenden Gasgriffs aber auch kein Problem. Unterhalb von 7.000 Touren läuft der Reihen-Vierling zwar etwas rauh, abseits der Boxengasse spielt dieser Bereich aber sowieso keine Rolle. Sobald man die Ampel hinter sich gelassen hat, erfreut man sich nur noch an der fein dosierbaren Leistung, dem Schaltschlag, wenn man, dank Blipper gefühlt ohne Unterbrechung des mörderischen Vortriebs, den nächsten Gang des KIT-Getriebes rein drückt und dem orgastischen Geschrei der offenen Akra-Anlage.
Mörderisch ist aber nicht nur der Vortrieb. Mindestens genauso spektakulär werkeln die Stopper aus dem Hause Beringer. Beim Erstkontakt im Stand wundert man sich zwar etwas über den leichtgängigen Hebel und den scheinbar fehlenden Druckpunkt. Fliegt man aber auf den Bremspunkt zu und greift zum Anker, könnte das Gefühl für Bremsleistung und Vorderrad kaum besser sein. In der Regel reicht hier ein Finger und immer ist man deutlich zu früh auf der Bremse. Zumindest dann, wenn man von einem Serien-Superbike auf die Rennzehner steigt. Das liegt aber nicht nur an der superben Bremsleistung, sondern auch an der außerordentlich gut gelungenen Balance der Bolliger-Kawasaki. Die Kawa verzögert nämlich nicht nur brachial, sondern zeigt sich dabei auch noch bockstabil. So wiederholt sich in den ersten Runden am Bremspunkt immer dasselbe Spiel. Man fliegt mit der gewohnten Geschwindigkeit heran, zieht viel zu früh am Hebel, löst diesen wieder und kommt nach erneutem Bremsen trotzdem viel zu langsam am Einlenkpunkt an.
Lust auf mehr
Viel zu schnell hingegen war mein erstes Mal auf einem WM-Motorrad und damit der Spaß vorbei. Auch ein bekanntes Phänomen beim ersten Mal. Aber auch nach der Ausfahrt hielt die Kawa noch einige Überraschungen parat. Nachdem die erste Erregung verflogen war und der Blick wieder etwas ruhiger über die Rundungen der Bolliger-Schönheit streichen konnte, offenbarten sich noch Details, die man so von normalen Rennmotorrädern nicht kennt. So verfügt das Langstrecken-Motorrad zum Beispiel an der rechten Seite über eine Aluminium-Aufnahme, die auf den ersten Blick an einer Öffnung für einen externen Starter erinnert, wie man ihn zum Beispiel für MotoGP-Motorräder kennt. Der Zweck hier ist jedoch ein ganz anderer. Um bei den nötigen Boxenstopps während der Langstreckenrennen das Motorrad auch blitzschnell und akkurat aufzubocken, kommt hier ein druckluftbetriebener Ständer zum Einsatz. Ebenfalls alles andere als Serie sind die Gabelbrücke und die Rad-Schnellwechselsysteme, die vom Team selbst entwickelt wurden. Gleiches gilt für den eher ungewöhnlichen Anschluss am Kühlwasserschlauch, der es bei drohender Überhitzung erlaubt, kaltes Wasser ins System zu pressen.
So erfreut man sich auch nach dem Akt noch an den Details und erkennt, dass nicht nur die Rennen selbst alles andere als eine schnelle Nummer sind. Vierundzwanzig Stunden sind lang und für die Fahrer, die Teams und das Material eine enorme Belastung, die nur gemeistert werden kann, wenn alle Rädchen perfekt ineinandergreifen. Da bekommt man direkt Lust auf ein weiteres erstes Mal – das erste Mal Langstrecke.
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