Stell Dir vor, Du bist ein Traditionshersteller von Motorrädern, Du hast eine eingeschworene Fan-Gemeinde und Du hast sogar ein Motorradsegment entscheidend mitgeprägt. Du zeichnest Dich durch ein eigenständiges Konzept und hohe Qualitätsstandards aus. Du engagierst dich sogar auf höchstem Niveau im Rennsport und die Themen Performance und Sportlichkeit haben in Deiner Modellpalette und vor allem bei deinem Topmodell immer eine wichtige Rolle gespielt – aber Du hast keinen Sportler mehr im Programm. Was tust Du, um die sportliche Seite deiner erfolgreichen Marken weiter zu unterstreichen, ohne dabei Unsummen in die Entwicklung eines neuen Superbikes zu stecken, dass am Ende eh kaum jemand für die Straße kauft? Diese Fragen hat man sich in den letzten Jahren und nach dem Einstieg in die Moto2-WM sicher auch bei Triumph gestellt und für die Saison 2022 mit der Symbiose aus einer großartigen Basis sowie einem erfolgserprobten Konzept und in Form der neuen der Speed Triple RR grandios beantwortet.
Bewährte Basis
Als Triumph im Herbst 2020 die ersten Informationen zur neuen Speed Triple preisgab, war schnell klar, dass die neue der kompromissloseste und sportlichste Drilling werden würde, der die heiligen Hallen in Hinckley jemals verlassen hat. Die 2021er Speed Triple hatte nicht nur ganze zehn Kilogramm abgespeckt, sondern in Sachen Leistung auch satte 30 PS zugelegt. Nebenbei wurde die Optik deutlich verjüngt. Um absolut klarzumachen, in welche Richtung es ab sofort gehen sollte, strichen die Briten die zahmeren Modellvarianten S und R aus dem Katalog. In Zukunft also nur noch das Top-Modell „RS“ – feinste Öhlins-Dämpfer, High End Brembo Stylema-Stopper und schicke Soziusabdeckung inklusive. Die Krawallschwester geht ja bevorzugt im Solobetrieb auf die sportliche Tour.
Dem neuen Auftritt entsprechend verlief auch die Präsentation. Um den tollen Komponenten und vor allem der nun enormen Leistung von 180 PS den richtigen Rahmen zu bieten, fand ein Großteil der Deutschland-Vorstellung auf der Rennstrecke in Oschersleben statt. Hier blitzte das fast supersportliche Potential der neuen Speed Triple Generation auf, den wirklich ambitionierten Zeitgenossen hätte es aber noch einen Tick weiter in Richtung sportlich/Racing sein können.
Der logische Schritt
Diesen logischen Schritt machte Triumph nun mit der neue Speed Triple RR und erschließt mit den richtigen Änderungen das volle Potential der schon großartigen Naked Bike Basis. Die auffälligste Neuerung ist hier ganz klar die schicke Halbschalenverkleidung, die gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Zum einen sorgt sie bei sportlicher Gangart auf der Landstraße und im Fall der Fälle auch auf der Rennstrecke für deutlich mehr Windschutz als der kleine und nur optional erhältliche Flyscreen der ansonsten nackten Schwester. Zum anderen schafft das knapp geschnittene Kunststoffkleid mit dem klassischen Rundscheinwerfer den Spagat zwischen sportlichem Mehrwert und cooler Cafe Racer Optik, ohne dabei zu sehr in die eine oder andere Richtung auszuschlagen.
Diese Glanzleistung gelingt der Triumph Doppel-R auch in Sachen Ergonomie. Schon beim ersten Platznehmen merkt man direkt, dass sich das Sitzdreieck deutlich in Richtung Sport gedreht hat. Ein Gefühl, das sich beim Blick in die technischen Daten bestätigt. Die Sitzhöhe blieb mit 830 Millimeter zwar unverändert, die breite Naked Bike Lenkstange musste aber Stummeln weichen, die die Hände fünf Zentimeter weiter vorne und stolze 13,5 Zentimeter weiter unten platzieren. In Kombination mit den 15 Millimeter höher und 26 Millimeter weiter hinten platzieren Fußrasten ergibt sich so eine deutlich aktivere Sitzposition. Stellt sich die Frage: ist das noch landstraßen- und vor allem alltagstauglich?
Die Souveräne
Der Spätherbst 2022 hätte wettertechnisch als Testzeitraum für Motorräder zwar fast nicht besser ausfallen können, bevor es auf die Landstraße ging, stand aber erst einmal ein Besuch an der Tankstelle an. Denn auch in Sachen Bereifung tendiert die Speed Triple stark in Richtung Sport und rollt ab Werk auf Pirelli Supercorsa SP in der V3-Version. Die sind für die flotte Runde auf der Haus- oder gar Rennstrecke top, in Sachen Komfort und vor allem bei Temperaturen unter 20 Grad Celsius aber nicht die perfekte Option. Nachdem der Luftdruck den äußeren Umständen angepasst wurde, ging es durch den Stadtverkehr ins angestammte Testrevier.
Die anfänglichen Bedenken, ob die geänderte Ergonomie nicht vielleicht zu sportlich ausfällt, zerstreuten sich schon nach wenigen Minuten. Die Speedy RR streckt Ihre Piloten zwar deutlich mehr über den Tank und in Richtung Vorderrad und die tiefer positionierten Lenkerstummel sorgen für mehr Gewicht auf den Handgelenken, bei einer Körpergröße von um die 1,80 Meter fällt die Belastung aber absolut moderat aus. Der innerstädtischen Stop-and-Go-Betrieb oder die Schleichfahrt durch kleinere Örtchen und Dörfer wird für Triumph-Treiber also nicht zur Qual.
Ähnlich verhält es sich in Sachen Kupplung, Getriebe und Gasannahme. Ist man im Bummeltempo unterwegs, fällt zwar auf, dass das Getriebe recht lang übersetzt ist und man langsame Passagen oder 30-Zonen tatsächlich im ersten Gang fährt, dank der perfekten Gasannahme und des auch bei Drehzahlen um die 2.000 Touren kultiviert laufenden Drillings ist das jedoch überhaupt nicht störend.
Aufgrund der sehr angenehmen Sounds und der moderaten Lautstärke des Triple gilt das tatsächlich auch für Passanten und anderen Verkehrsteilnehmer. Muss man bei echten Superbikes in solchen Situationen häufig unterstützend die Kupplung einsetzen, ist das bei Speedy kaum nötig. Dank des auf Basis der Erfahrungen aus der Moto2 entwickelten Schaltautomaten, der kupplungsfreies Hoch- und Runterschalten erlaubt, muss man in der Regel nur zum Anfahren und Anhalten zum leichtgängigen Hebel greifen. Kleiner Wermutstropfen: Das Gefühl beim Schalten ist leicht teigig und der Blipper könnte etwas knackiger und präziser funktionieren.
Der Superbike Effekt
Hat man sich aber daran gewöhnt und das Schalten mit Nachdruck verinnerlicht, spielt das keine Rolle mehr. Spätestens, wenn man das Ortsschild passiert hat, treten sowieso andere Anspekte in den Vordergrund. Das neue semiaktive Fahrwerk zum Beispiel. Dieses ist nämlich ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zur unverkleideten RS-Version. Setzt das Naked Bike mit einer NIX 30 Gabel und dem TTX 36 Federbein auf rein mechanische Komponenten, kommt in der RR mit dem Smart EC 2.0 System die neueste elektronisch gesteuerte Öhlins-Dämpfer-Generation zum Einsatz. Und die weiß besonders auf kleinen, schlechten Nebensträßchen zu begeistern und macht die eigentlich sportlicherer RR-Variante zumindest fahrwerksseitig zum vielseitigeren Motorrad. Trotz der sportlichen Ausrichtung bügelt die Speed Triple RR Kanten und Rillen durch Flicken oder Asphaltaufbrüche einfach aus. Wem die Grundabstimmung dennoch zu straff ist, hat auch unterwegs und während der Fahrt die Möglichkeit, die Dämpfung individuell anzupassen oder einfach in den vorprogrammierten Komfort-Modus zu wechseln. Dieser schafft tatsächlich einen spürbaren Unterschied, während des Tests war aber auch auf schlechtem Untergrund immer die Standardeinstellung Option der Wahl.
Diese passt tatsächlich hervorragend zum Charakter der Speed Triple RR. Nicht nur auf bekanntem Geläuf und wegen des Fahrwerks fühlt man sich auf der Triumph pudelwohl, schon direkt auf den ersten Metern vermittelt das Motorrad dieses satte, souveräne Fahrgefühl, dass man eigentlich nur von Superbikes, oder von diesen abgeleiteten Power Nakeds wie einer Aprilia Tuono oder Ducati Streetfighter kennt. Die haben aber noch mal 20 bis 30 PS mehr? Stimmt, das spielt aber in dieser Leistungsklasse auf der Landstraße keine Rolle. Die Speed Triple hat nicht nur in jeder Lebenslage mehr als genug Leistung, mit 125 Newtonmeter Drehmoment hat sie sogar ein Tick mehr Drehmoment als die Streetfighter (123 Nm bei 9.500 U/min), das Maximum der Drehmomentkurve steht bei 9.000 Umdrehungen sogar früher an. Und das ist, worauf es im StVO regulierten Winkelwerk ankommt.
Bietet die Landstraße guten Asphalt und viel Grip, addieren sich das überlegene Fahrgefühl, die knappe Cafe Racer Verkleidung und die sportliche Sitzposition paradoxerweise zu einem schon fast negativen Superbike-Effekt auf. In Kombination mit dem potenten Antrieb sorgen diese Eigenschaften nämlich dafür, dass sich die gefahrenen Geschwindigkeiten immer deutlich langsamer anfühlen als sie tatsächlich sind. Vor allem dann, wenn man in den Flow kommt, sollte man daher immer ein Auge auf dem schicken TFT-Display und einen Finger an der Bremse haben. Mehr brauchen die Brembos auch nicht, um Ross samt Reiter wirkungsvoll zu verzögern.
Sollten die Pferde doch einmal mit einem durchgehen und bei der flotten Landstraßentour tatsächlich Gangstufe fünf im Display aufblitzen – mehr als den vierten Gang braucht man eigentlich nie – kann man sich bei einer kurzen Pause zur Beruhigung in den vielen feinen Details der Speed Triple RR verlieren. Ist die RS-Variante mit dem neu gestalteten Heck, der Einarmschwinge und der tollen Verarbeitung schon eine echte Augenweide, legt die neue mit ihrem Cafe Racer Look noch einen obendrauf. Sei es die Carbonhalterung der Frontverkleidung, die formvollendet gestalteten Ausleger der Spiegel oder einfach nur das Markenlogo im LED-Scheinwerfe – sie RR macht sogar im Stand richtig Laune. Ein kleines Manko hat die neue dann aber doch. Die eben noch gelobten Spiegel sind zwar optisch sehr gelungen, während der Fahrt fällt die Sicht nach hinten aber sehr gering aus und man kann eher die eigenen Arme denn den rückwärtigen Verkehr beobachten. Das ist auch ein Effekt, den man eher von Superbikes kennt. Warum Triumph hier nicht auf die Lenkerendenspiegel der RS zurückgegriffen hat, die auch den Cafe Racer Look noch unterstreichen würden, bleibt als Frage offen.
Königin der Landstraße
Was hat Triumph das nur für ein grandioses Motorrad auf die Räder gestellt. War die Speed Triple RS schon ein großer Wurf, gelingt es der RR-Version nun tatsächlich, das volle Potential des tollen Gesamtkonzepts aus Motor und Rahmen komplett auszuschöpfen. Dabei setzt sie mit der Verkleidung und der modernen Interpretation des Cafe Racer Stils in Sachen Design und Finish nochmal deutlich eine Schippe obendrauf. Fahrwerk und Ergonomie verleihen ihr spürbar mehr Sportlichkeit, ohne, wie aktuelle Superbikes, dabei zu kompromisslos zu sein und die Alltagstauglichkeit zu verspielen. Wem also ein Naked Bike nicht sportlich genug ist, aber trotzdem hauptsächlich auf der Straße fahren möchte und hierfür ein Premium-Motorrad mit individuellem Flair sucht, ohne die x-te Panigale zu fahren, der sollte sich die Triumph unbedingt mal genauer anschauen und am besten Probefahren. Aber Vorsicht: es könnte um Dich geschehen sein!
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