Die Retro-Welle ebbt nicht ab. Was vor einigen Jahren in der Hipster und Cafe-Racer-Szene in Form von Eigenbauten begann, ist längst voll im Mainstream angekommen und inzwischen bieten fast alle Hersteller ein entsprechendes Vintage-Style-Modell von der Stange an. Für die Saison 2018 gibt es nun zwei bemerkenswerte Neuvorstellungen. Kawasaki renovierte die im letzten Jahr vorgestellte Z900 und bringt mit der Z900RS einen Ableger des Top-Sellers als Reminiszenz der legendären Z1 auf den Markt. Und auch aus Italien kommt interessantes Material. Ducati erweitert mit der Scrambler 1100 die aktuell erfolgreichste Modellreihe aus Bologna um ein echtes Big-Bike. Gute Zeiten also für Fans großer Motorräder mit moderner Technik im klassischen Design. Doch welcher der beiden Neuankömmlinge ist für wen geeignet und welcher kann was? Lieber zwei oder vier Zylinder? Besser Japan oder Italien? Wir haben uns beide Modelle geschnappt und sind zum Konzeptvergleich Ost gegen West, Kawa gegen Ducati, Oldschool gegen Hipster-Style ausgerückt.
Klassische Schönheit
Fangen wir mal mit den Gemeinsamkeiten an. Beide Motorräder wirken mit den runden Scheinwerfern, den hohen Lenkern, den tropfenförmigen Tanks und den durchgehenden Sitzbänken so, als hätten ihre Erschaffer während des Schöpfungsprozesses die klare Vorstellung eines klassischen Motorrades vor Augen gehabt. Doch schon auf den zweiten Blick fällt auf, dass Kawasaki diesen Ansatz bei der Z900RS deutlich konsequenter verfolgt. Es scheint fast so, als hätten die japanischen Designer bei der Umsetzung einfach an alles gedacht. Egal, ob Spiegel, die klassischen Rundinstrumente, die verchromte Auspuffanlage oder die teilpolierten Gussfelgen im Speichendesign, alles verströmt einen sehr authentischen Oldschool-Charme. Vor allem sind es hier aber Details wie die aufgesetzten und nicht lackierten Typenschilder, die Sozius-Schlaufe an der Sitzbank und die angedeuteten Kühlrippen am Motorblock, die die Sache rundum gelungen wirken lassen. Besonders schön: der polierte Vorschalldämpfer, der die Edelstahl-Auspuffanlage – trotz Euro4 – sehr schlank wirken lässt. Die Kawa erfüllt so auf moderne Weise die Vorstellung einer klassischen Schönheit. Zwei Kleinigkeiten trüben dann aber doch den fast perfekten Gesamteindruck. Kommt der Scheinwerfer zwar als LED-Leuchte, was durch das runde Design überhaupt nicht stört, wollen die eckig-modernen Blinker nicht so recht ins Gesamtbild passen. Und auch die silberne Plastikhalterung am vorderen Schutzblech wirkt etwas billig. Hier hätte es in letzter Konsequenz gerne Metall als Werkstoff sein dürfen. Gleiches gilt für die Abdeckung unter dem Tank. Hier kommt ebenfalls nur Kunststoff in Aluminium-Optik zum Einsatz.
Anders bei der Scrambler 1100. Hier sind alle Designelemente tatsächlich aus gebürstetem Aluminium und lassen die Elfhunderter sehr edel wirken. Auch sonst macht an der Ducati alles einen sehr wertigen Eindruck. Das fängt bei der massiven Marzocchi-Gabel an, setzt sich über den Motor und dessen Peripherie fort und endet beim schön geformten Aluminium-Hilfsrahmen für die Sitzbank und die Doppelendtöpfe. Wandert man mit dem Auge über die Scrambler, fällt aber auch auf, dass die Formen zwar klassisch wirken, die Linien der 1100er aber deutlich moderner gezeichnet wurden. So hat zum Beispiel der Tank eine Tropfenform, durch die austauschbaren Aluminiumblenden und Designelemente, die an den Tank der Monster erinnern, ist der Gesamteindruck weit weniger klassisch. Das trifft auch auf die Tachoeinheit zu, die nicht nur eine moderne Grundform aufweist, sondern auch alle Werte digital anzeigt.
Auch bei der elektronischen Ausstattung ist die Scrambler voll auf der Höhe der Zeit. Über das linke Lenkerende lassen sich an der Scrambler sowohl drei verschieden Riding-Modes (Active, Journey, City) wählen, sondern auch die vierstufige Traktionskontrolle einstellen. Darüber hinaus verfügt die Duc sogar über ein top-aktuelles Kurven-ABS aus dem Hause Bosch.
Da sieht es ausstattungstechnisch bei der Z900RS schon etwas schlechter aus. Natürlich hat auch sie das obligate ABS an Bord, dieses funktioniert aber nur konventionell. Daneben gibt es noch eine abschaltbare, zweistufige Traktionskontrolle. Das war´s. Damit ist sie zwar schon besser bestückt als die Standard-Z900, im Vergleich zur Scrambler sieht sie damit aber relativ alt aus. Ist das bei der Optik sicher noch so gewünscht und gefällt dem Autor da auch ausgesprochen gut, wäre auf Technik-Seite auf jeden Fall ein bisschen mehr wünschenswert. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die Zett mit knapp 12.000 Euro (Scrambler 12.995,- €) nicht gerade als Schnäppchen zu bezeichnen ist.
Zeitmaschine
Aber genug geguckt und theoretisch verglichen – was zählt, sind Emotionen und Fahreindrücke. Nimmt man auf der Z900RS Platz, rückt die Elektronik auch direkt in den Hintergrund, denn man bekommt viel mehr, als man vielleicht erwartet hat. Das die Z900RS ein ausgewachsenes Motorrad ist, steht wohl außer Frage, beim Erstkontakt ist man dann dennoch von ihrer Größe überrascht. Ich zumindest war es. Der Tank ist erheblich voluminöser, als es auf den ersten Bildern schien und auch insgesamt wirkt die Zett deutlich bulliger. Drückt man den Anlasser und erweckt den 948 Kubikzentimeter großen Reihen-Vierling zum Leben, wird dieser Eindruck sogar noch mal verstärkt. Echt beeindruckend, wie dumpf und rabauzig der Motor schon im Stand brabbelt. Um den Retro-Effekt perfekt zu machen, hat Kawasaki nicht nur an der Optik Hand angelegt, sondern auch das erste Mal Sound-Design betrieben. Und das hört man. Akustisch unterscheidet sich die RS nämlich deutlich von der Standard-Z900.
Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, als sei die Standard-Zett nur motorseitig Organspenderin für die RS, täuscht der Eindruck. Das merkt man spätestens beim erstem Griff zur Kupplung, die dank Assisted Clutch genauso leichtgängig ist wie bei der älteren Schwester. Neben Getriebe und Motor, der in der RS nur 111 statt 125 PS leistet, wurde auch der Rahmen von der Z900 übernommen, der Fahrer wird aber weniger vorderradorientiert platziert. In Kombination mit dem etwas breiteren Lenker und des, durch die höhere Sitzbank (835 statt 810 mm), weniger engen Kniewinkels entsteht auf der RS eine sehr entspannte Sitzposition. Die Entspannung überträgt sich auch direkt auf den Fahrer. Sitzt man auf der Zett, möchte man am liebsten nur in T-Shirt und Jeans, maximal noch mit einer coolen Lederjacke bekleidet, durch die Gegend rollen. Verstärkt wird dieses Gefühl vom sahnig laufenden Motor. Dieser nimmt zwar nicht ganz so sanft Gas an wie der etwas kräftigere Vierling der Z900, in puncto Laufruhe, Drehfreude und Leistungsentfaltung steht er diesem aber in nichts nach. Hier kann die RS sogar mit dem über 1.000 Touren früher anstehenden Drehmoment-Maximum überzeugen. Bereits bei 6.500 Umdrehungen können hier die knapp 99 Newtonmeter komplett abgerufen werden. Weil das Ganze so geschmeidig und unaufgregt funktioniert, ist man dann doch immer wieder mit sportlichen Tempi unterwegs. Dass man dabei nicht zu sehr über die Stränge schlägt, dafür Sorgen die niedrigen Rasten der RS. Hat man sich ein wenig an das Mopped gewöhnt, schrabbeln diese regelmäßig über den Asphalt und machen so klar, dass man es mit den sportlichen Ambitionen nicht übertreiben sollte.
Retro-sportiv
Ganz anders verhält sich hier die elfhunderter Scrambler. Auch wenn sie optisch dem Retro-Trend huldigt, verfügt sie technisch über deutlich sportlichere Elemente und empfängt so auch den Fahrer. Die Rasten sind höher, der Kniewinkel enger, die Sitzbank straffer. In Kombination mit dem überbreiten Lenker bringt die Duc ihren Reiter automatisch in eine eher angriffslustige Sitzposition. Zündet man dann den Zweizylinder, ist es endgültig vorbei mit der Tiefenentspannung durch den Ritt auf der Kawasaki. Der 90-Grad-Vau-Zwo läuft nicht nur etwas rauer, sondern bollert schon ab niedrigen Drehzahlen deutlich lauter als Reiher-Vierer der RS und macht so auf dicke Arme. Mit 86 PS und 88 Newtonmeter reicht der 1079 Kubik-Motor zwar lange nicht an die Kawa heran, da er das volle Drehmoment aber schon unterhalb von 5.000 Umdrehungen kredenzt, fühlt er sich im unteren Drehzahlbereich deutlich kräftiger an. Da der Zweiventiler dazu ab 2.000 Touren auch noch gute Manieren zeigt und mit einer feinen Gasannahme verwöhnt, ist man überraschend schnell im Attackemodus. Vor allem im engeren Winkelwerk macht das mächtig Laune. Ein leichter Zug an der Lenkstange genügt und die Scrambler lässt sich sprichwörtlich spielerisch abwinkeln. Hält man dabei die Drehzahl über 3.000 Touren, katapultiert man die 206 Kilo der Ducati auch genauso leichtfüßig wieder aus der Kurve heraus. Hier sollte man aber für zügige Schaltvorgänge sorgen, da dem Motor nach oben hin dann doch recht schnell die Puste ausgeht. Dank der sehr leichtgängigen Kupplung und dem gut zu schaltenden Getriebe ist das aber keine Problem und man nimmt auch auf kurzen Geraden ordentlich Fahrt auf. Glücklicherweise gibt es auch beim Thema Verzögerung nichts zu beanstanden. Um Vortrieb in Staub und Wärme zu verwandeln, kommt an der Scrambler eine Kombination aus 320er Scheiben und Brembo M4.32 Monoblöcken zum Einsatz, die tadellose Arbeit verrichten. Durch den sehr hohen und breiten Lenker geht zwar das nötige Gefühl für das 18 Zoll messende Vorderrad verloren, im Notfall hat man ja aber zum Glück das Kurven-ABS on Bord.
Aber auch bei zurückhaltendem Anker-Einsatz wird bei sportlicher Fahrweise auf engem Geläuf die RS im Rückspiegel immer kleiner. Hier kann die Kawa – trotz breitem Lenker und erheblich kürzerem Radstand – mit der Agilität der Scrambler nicht ganz mithalten und ihr Leistungsplus noch nicht ausspielen. Werden die Radien weiter, schließt sie aber locker wieder auf. Ist die Zwischengerade lang genug, schiebt sie sich auch mal an der Scrambler vorbei. Spätestens auf dem Heimweg hat der Kawa-Treiber dann die Nase vorn – vor allem dann, wenn das Kurvenrevier etwas weiter entfernt liegt und über die Autobahn angesteuert wurde. Hier kommt man auf der Kawa nicht nur schneller, sondern auch entspannter voran. Während die Scrambler überhaupt unter vollem Körpereinsatz und mit Verrenkungen (Hintern auf den Soziussitz, Oberkörper ganz flach auf Tank, Arme eingeklappt) auf die 217 km/h Höchstgeschwindigkeit gepeitscht werden kann, nutzt der RS-Fahrer hier die Mehrleistung und den mehr oder weniger guten Windschutz der Tacho-Lampen-Einheit und entschwindet langsam, aber unaufhaltsam. Aber nicht nur beim Top-Speed punktet die Kawa. Generell ist die Sitzposition gefälliger und auch für längere Etappen problemlos geeignet. Wem der Standardsitz zu hoch sein sollte, findet man im Kawasaki-Zubehör eine flachere Variante für eine niedrigere Sitzposition. Diese hat die Scrambler 1100 zwar per se, trotz des hohen Lenkers sitzt man hier auf Dauer aber etwas angestrengter.
Herzenssache
Am Ende der Tour steht fest: Die Entscheidung für oder wider Kawas Z900RS oder die neue Ducati Scrambler 1100 lässt sich nicht rational und an Hand von Ausstattungsmerkmalen, sondern nur mit dem Herzen fällen. Wer ein hippes Motorrad mit der vollen Packung Elektronik sucht, dass auch mal etwas ambitionierter bewegt werden kann, ist mit der Ducati Scrambler sicher gut beraten. Der Mix aus modernen und klassischen Elementen sowie die eher sportlich ausgelegten Bremsen und Fahrwerkselemente sprechen für die Ducati.
Sucht man dagegen ein sprichwörtlich klassisches Motorrad, findet man bei der Z900RS alles, was man sich nur wünschen kann. Zwar verfügt auch die Kawa über brandaktuelle Features wie Traktionskontrolle oder LED-Leuchten, das ganze fügt sich aber perfekt ins Gesamtkonzept aus den vielen Retro-Elementen ein. Vom Motor mit den stilisierten Kühlrippen über die sehr gelungene Metallic-Lackierung bis hin zu den teilpolierten Felgen versetzt die RS den Fahrer gekonnt in die Ära der legendären Z1. Zeitgleich verwöhnt die Kawasaki ihren Pilot mit den Errungenschaften moderne Motorradtechnik. Ein Gesamtpaket, dass das Herzen höher schlagen lässt.
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